Selbstverständlich sind wir den Superhelden von Marvel und DC dankbar für die Heerscharen an Bankräubern, Erpressern und Trickbetrügern, die sie an ihrem üblen Treiben gehindert haben; für die Abwendung von Flugzeugabstürzen und Planetenkollisionen und dafür, dass sie auch einmal einer Oma dabei helfen, ihre Katze wieder vom Baum zu holen. Trotzdem fragt man sich schon hin und wieder: Sollte es ihnen mit all ihren Superkräften und Fähigkeiten nicht möglich sein, die wirklichen Probleme anzugehen, unter denen die Menschheit leidet? Wäre uns allen nicht viel mehr damit gedient, wenn Tony Stark seine Milliarden nicht in Hightech-Spielzeug für Erwachsene stecken würde, sondern in Entwicklung und Ausbau einer klimafreundlichen Energieversorgung? Wenn Superman sich einmal vierzehn Tage lang konsequent darum kümmern würde, Kriegsgebiete weltweit zu demilitarisieren und so Millionen Menschen vor Not, Hunger und Gewalt zu schützen? Oder wenn alle zusammen sich des Problems annehmen würden, dass auch heute noch in unseren westlichen Gesellschaften Menschen struktureller Benachteiligung ausgesetzt sind wegen ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Hautfarbe?
Tatsächlich waren die Superheldencomics seit jeher sehr zaghaft in ihrer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen. Selbst eine Figur wie Black Panther, der spätestens seit der Verfilmung aus dem Jahr 2018 weltweit als Symbol schwarzen Selbstbewusstseins gilt, war bei ihrer Erfindung 1966 kein ernstzunehmendes Statement für Gleichheit und Toleranz, sondern vielmehr der leicht zu durchschauende Versuch, im Windschatten der Bürgerrechtsbewegung nun endlich auch an das Taschengeld der schwarzen Jugendlichen zu kommen. Und auch heute noch winden sich die Verlage bis auf wenige Ausnahmen darum herum, Stellung zu sozialen Missständen zu beziehen – oder diese auch nur in ihren Geschichten aufscheinen zu lassen.

Kumasi J. Barnett, The Amazing Black-Man #208 Congress the Twin Terror, 2016, Acryl, Marker, Feder and Ölstift auf Comicheft, 15,9 x 24,8 cm. Courtesy of Lowell Ryan Projects
Dass es auch ganz anders ginge, zeigt Kumasi J. Barnett in seinen Werken, die gerade von der Galerie Lowell Ryan Projects auf der Armory Show präsentiert werden. Er übermalt die Cover alter Superheldenhefte und deutet die dargestellten Szenen so zu Situationen um, in denen sich Rassismus und Polizeigewalt Bahn brechen oder das Großkapital seine Pfründe sichert. Spider-Man wird so zum kapuzenpullitragenden Amazing Black-Man, der sich mit Congress, dem zweiköpfigen Terror herumschlagen muss; statt Captain America kündigt der modifizierte Titelschriftzug „Cops in America“ an oder „Cash in America“ – und die Abbildungen darunter lassen keinen Zweifel, in wessen Diensten beide Mächte stehen.

Kumasi J. Barnett, Cash in America #233 Crosshire, 2015, Acryl, Marker, Feder and Ölstift auf Comicheft, 15,9 x 24,8 cm. Courtesy of Lowell Ryan Projects
Was dem „bagged & boarded“-Comicsammler zunächst vielleicht Schweißtropfen auf die Stirn treibt, erweist sich als enorm wirkungsvolles künstlerisches Konzept: Aufgeladen mit wirklicher Bedeutung entfalten die tausendfach gesehenen Posen eine ganz neue Dringlichkeit, und die kraftstrotzende, aber ursprünglich auch hohle Dynamik der Illustrationen entwickelt plötzlich echte Explosivität, wenn Barnett sie nutzt, um dem Betrachter sein Anliegen mit Wucht um die Ohren zu hauen.
Vom Marvel-Firmensitz bis zu den Ausstellungsräumen der Armory Show sind es übrigens grade mal fünf Blocks. Man könnte also darauf hoffen, dass der eine oder andere Redakteur in seiner Mittagspause einen Abstecher an den Hafen gemacht und sich bei Barnett Ideen geholt hat, wie dem künstlerisch ausgelaugten Genre des Superheldencomics neue kulturelle Relevanz zu verleihen wäre. Aber bleiben wir realistisch – vermutlich bleibt es vorerst bei Planetenkollisionen und Katzen auf Bäumen.