Vom Aufstehen und Einstehen

Save It for Later

Vom Aufstehen und Einstehen
Save It for Later
06. Januar 2022

Heute vor einem Jahr erlebte die US-Demokratie eine ihrer schwärzesten Stunden: aufgehetzt von einem abgewählten Präsidenten stürmte ein wütender Mob das Kapitol und blies nicht nur zum Angriff auf die dort tagenden Volksvertreter, sondern auf das demokratische Staatswesen an sich. Wie es so weit kommen konnte, beschreibt Nate Powell in seinem Comic SAVE IT FOR LATER – und er macht sich Gedanken darüber, wie man es in Zeiten von Autoritarismus, Desinformation und offenem Hass schafft, seine Kinder zu anständigen Menschen zu erziehen.

Als Donald Trump 2016 zur Präsidentschaftswahl antritt, ist die Tochter von Nate Powell fünf Jahre alt – und damit alt genug, um zu begreifen, dass der gelbhaarige Mann, der da gerade überall zu sehen ist, mit den in der eigenen Familie hochgehaltenen Werten nicht viel am Hut hat. Aber immerhin, lässt sie sich von ihren Eltern erklären, sei das nun eine gute Gelegenheit für die Demokratie, zu zeigen, dass ein derart schlechter und hasserfüllter Mensch keine Chance hat, wenn jeder mitbestimmen darf. Und Sorgen, dass er die Wahl gewinnen könnte, brauche sie sich nun wirklich keine zu machen.

Wie Amerika und die Welt leidvoll erfahren mussten, kam es anders. Hass, Hetze und Realitätsverweigerung waren plötzlich mehrheitsfähig. Und nach dem ersten Schock erkannte Powell, dass dieses Wahlergebnis keineswegs so überraschend kam, wie es für viele liberal eingestellte Amerikaner zunächst schien. Vielmehr waren die Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft massiv nach rechts driftete, in der Rückschau kaum zu übersehen: Nachbarn, die die Südstaatenflagge im Vorgarten hissen, sind eben nicht nur nostalgische Heimatfreunde.

Seither dokumentiert Powell mit dem Zeichenstift, wie er und seine Familie damit umgehen, in einem gespaltenen Land zu leben; mit einer – inzwischen abgewählten – Regierung, die diese Spaltung noch förderte, Rassismus und Sexismus über den roten Teppich ins Weiße Haus einziehen ließ und in jedem einzelnen Moment an den Fundamenten des demokratischen Rechtsstaats sägte. Neben Überlegungen dazu, wie man sich in einer solchen Situation der Zersetzung zivilisatorischer Werte in den Weg stellen kann, wann man aufstehen muss, um für seine Überzeugungen einzustehen, steht im Mittelpunkt der gezeichneten Essays immer wieder die Frage: wieviel an Informationen über diese Themen kann man seinen Kindern zumuten? Was können sie verstehen, was können sie verkraften? Und gerade, wenn man als Leser vielleicht daran zweifelt, ob es wirklich sein muss, eine Fünfjährige über die Flaggen und Symbole verschiedener rechtsradikaler Organisationen aufzuklären und ihr ein gesundes Misstrauen gegenüber der Polizei mit auf den Weg zu geben, präsentiert Powell einem eine Erkenntnis, die einem jeglichen Wind aus den Segeln nimmt: Eine freie Entscheidung ist das ohnehin nur für sie als weiße Familie. Für alle mit anderer Hautfarbe ist es auch im Amerika unserer Zeit noch immer eine traurige Notwendigkeit, die im Zweifelsfall über die Sicherheit und das Leben des Kindes entscheidet.

Diese sehr persönlichen Einblicke bilden den Kern von SAVE IT FOR LATER. Um sie herum gruppieren sich weitere Kapitel mit anderen Schwerpunkten, darunter ein besonders bemerkenswertes, das aufzeigt, wie in den letzten Jahren eine paramilitärisch geprägte Macho-Ästhetik in den amerikanischen Alltag eingesickert ist; passgenau zum perfiden Narrativ vom Volk, das seine Rechte seit jeher mit der Waffe in der Hand erkämpfen muss. Für Comicleser besonders erhellend ist dabei übrigens die unrühmliche Karriere, die das Symbol des Marvel-Helden Punisher in diesem Zusammenhang gemacht hat.
Neben seiner zeichnerischen Klasse und der Dringlichkeit, die Powells erzählerischer Duktus vermittelt, ist es gerade diese Zusammenführung ganz unterschiedlicher Blickwinkel auf den Zustand einer Gesellschaft, die das Buch  lesenswert macht.

Wenn man heute, ein Jahr danach, erleben muss, wie hochrangige Republikaner tönen, der Sturm aufs Kapitol sei nur eine vielleicht etwas wilde, aber letztendlich harmlose Form des Sightseeings gewesen, weiß man, dass der Spuk des Trumpismus nicht von selbst wieder verschwinden wird. Und auch, dass es vermutlich mehr als einen Comic braucht, um ihn zu vertreiben. Aber wenn SAVE IT FOR LATER beim einen oder anderen Leser die Erkenntnis weckt, dass man Demokratie und Menschenrechte jeden Tag aufs Neue verteidigen muss, ist die Hoffnung nicht verloren.

Save It for Later
Nate Powell / Carlsen
Gebundene Ausgabe, 160 Seiten, €24

Abbildungen: © Nate Powell / Carlsen Verlag 2021

Nate Powells bekanntestes Werk harrt bisher noch einer deutschen Ausgabe: „March“, die von Powell illustrierte, dreibändige Autobiographie des Bürgerrechtlers John Lewis, ist im Original bei Top Shelf erschienen.