Rockzirkus der Entscheidungen

KISS Psycho Circus

Geht man allein nach der Entwicklung des Sammlerwerts, scheint KISS – PSYCHO CIRCUS nicht gerade zum begehrten Klassiker geworden zu sein: Die Heftchen, die 1999 bei Erscheinen 5,90 DM kosteten, bekommt man heute antiquarisch für um die zwei Euro. Als Zeitdokument der Comic-Kunst im ausgehenden Jahrtausend sind sie jedoch ein erkenntnisreiches Vergnügen.

Ganz besonders gilt das natürlich für alle Liebhaber der US-amerikanischen Rock’n’Roll Band KISS, da deren legendäres Bühnenprogramm als Rahmenhandlung dient. In dieser Show der Rockgruppe treten die Bandmitglieder mit Schminke maskiert und in futuristisch-kosmisch aussehenden Kostümen einem polytheistischen Weltbild folgend als außerirdische Götter des Rock’n’Roll auf, fliegen durch die Luft, speien Kunstblut, schießen Raketen aus ihren Instrumenten und verursachen Explosionen, während sie ihre Songs zum Besten geben. Die Umsetzung dieses Bühnenkonzepts lässt sich zwar in der Comicserie nicht identisch wiederfinden, jedoch sind die Parallelen nicht zu übersehen.

Ob sich Gene Simmons und Todd McFarlane damals in den späten Neunzigern auch über die Vorzüge von eisgekühltem Gin unterhalten oder aber lediglich über die verblüffenden Parallelen zwischen den beiden Kunstformen Rockmusik und Comics geplaudert haben, lässt sich nach nun über 20 Jahren wohl nicht mehr mit letzter Gewissheit sagen. Vielleicht ja auch über beides? Fakt ist jedoch, dass aus diesen Gesprächen die US-Comicserie „KISS – Psycho Circus“ entstanden ist und in den USA im Oktober 1997 mit der Ausgabe „The Witching of Adam Moon – part 1“ bei Image Comics mit Brian Holguin als Autor startete. Das Team für die grafischen Elemente bestand aus Angel Medinas Bleistift und Kevin Conrads Tusche. Im April 1999 erschien dann die deutsche Übersetzung von Frank Neubauer bei Infinity.

Eine Lektüre der ersten vier Ausgaben, welche jeweils zwei Ausgaben des amerikanischen Originals enthalten, führt in die Rahmenhandlung vierer, uralter Gottheiten mit den  aussagekräftigen Namen Demon, King of Beasts, Starbearer und Celestial ein, welche jeweils eines der Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft repräsentieren und mit Hilfe menschlicher Avatare in das irdische Geschehen eingreifen können. Diese Avatare betätigen sich in einem Wanderzirkus und bilden ein Quartett, das aus Zirkusdirektor Blackwell, dem Tierbändiger Tiberius, Fortunado dem Clown und dem Stelzenläufer Stargrave besteht. Die blinde Wahrsagerin Madam Raven fungiert dabei als das Medium, welches die Inkarnationen der Gottheiten ermöglicht.

Dieser umherziehende Wanderzirkus verknüpft die einzelnen, teilweise zusammenhanglos erscheinenden Episoden, in denen unterschiedliche sterbliche Protagonisten schicksalshafte Wendungen ihres Lebens durchlaufen. Thematisch reicht die dramatische Palette der Episodenhelden von verzweifelter Einsamkeit über Machtgier und Skrupellosigkeit bis hin zu Alkoholmissbrauch, häuslicher Gewalt und rivalisierenden Gangs. Die Episoden spielen meist in einer ländlich geprägten Umgebung, in kleinen Ortschaften, an verlassenen Orten oder aber auch in der Vergangenheit. Die Episode mit dem Titel „Smoke & Mirrors – part 1-3“, die als deutsche Übersetzung in Heft 2 und 3 zu finden ist, zeigt, wie der Wanderzirkus entsteht und spielt in der mittelalterlich anmutenden Welt des 13. Jahrhunderts. Andere Episoden sind vor einem zeitgenössischen Hintergrund angesiedelt und erzählen von ihren jeweils wechselnden und tragischen Hauptfiguren. Die Tragweite dieser Tragik hat dabei eine enorme Spannweite, die Garantie auf ein Happy End gibt es nicht und als verlässliche Konstante erscheinen stets die Gottheiten als Deus Ex Machina, um die Protagonisten vor eine Wahl zu stellen, deren Ergebnis von diesen getragen werden muss. – „So sei es!“ – Mit dieser Formel werden regelmäßig die Konsequenzen der jeweiligen Entscheidungen eingeleitet und den Einsichtigen ergeht es dabei zwar nicht gerade angenehm in ihren Metamorphosen, jedoch bei Weitem besser als den Protagonisten, die sich dem Lernprozess, der durch die göttlichen Erscheinungen ausgelöst wird, verweigern.

Eine grelle Farbgebung, extreme Perspektivierungen, stark überzeichnete Figuren und rasante Wechsel bzw. Überlappungen von groß angelegten voll- oder doppelseitigen Formaten mit kleineren Panelreihen prägen die grafische Gestaltung und überfordern gemeinsam mit den detailreichen Bildgestaltungen und einen häufigen Wechsel der Typografie auf den ersten Blick. Eine nähere Betrachtung lässt jedoch erkennen, dass durch die unterschiedliche Farbgebung der Sprechblasen und deren Textinhalte, dem geneigten Leser eine Hilfe bei der Verfolgung der einzelnen Erzählebenen geboten wird.

Fazit: Durch die wechselnden Protagonisten ist inhaltlich für Abwechslung gesorgt. Das regelmäßige Erscheinen der durchtrainierten Gottgestalten, sorgt jedoch für eine hohe Vorhersagbarkeit der Erzählstruktur und ermüdet im Laufe der Lektüre. Dagegen überraschen die Wendepunkte oft mit unvorhersehbaren Handlungsverläufen und bedienen unterschiedliche Geschmäcker.

Wertung: 3 von 5 Powerriffs

Beim Lesen hören: Das Doppel-Live-Album KISS ALIVE! von 1974; insbesondere das 12-Minuten-Epos 100.000 years und den Song Got to Choose, dessen Titel die Prämisse des Comics auf den Punkt bringt.

Unser Autor: Alexander Michailidis gewann mit seiner Progressive Power Metal-Band FRAGILE EARTH 1990 den renommierten Wettbewerb für Schülerbands am Gymnasium Plochingen. Weil diesem frühen Erfolg erstaunlicherweise dann doch keine Weltkarriere erfolgte, arbeitet er heute als Lehrer. Immerhin hat er so die Chance, seinen Schülern hin und wieder einen Comic als Literatur unterzujubeln.

KISS Psycho Circus
Heft 1 bis 4
Brian Holguin, Angel Medina, Kevin Conrad / Infinity Verlag

Insgesamt erschienen 12 Ausgaben als Kiosk- (Coverpreis 5,90 DM) und Prestige-Edition (9,90 DM)

Alle Abbildungen © Brian Holguin, Angel Medina, Kevin Conrad / Infinity Verlag / Image Comics