
Unsere Orte, unsere Erinnerungen
la casa
Mehr als die spektakulären Highlights im Kalender sind es die kleinen Dinge, die unser Leben prägen: die alltäglichen Erledigungen, die gemeinsamen Rituale und vor allem die Beziehungen zu den uns nahen Menschen, die uns durchs Leben begleiten und ihre Spuren hinterlassen. Paco Roca setzt ihnen ein Denkmal mit seinem wunderbaren, jetzt wieder aufgelegten Buch „la casa“.
Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters treffen sich drei erwachsene Geschwister, um das seither leerstehende Ferienhaus der Familie ein letztes Mal gemeinsam in Schuss zu bringen und so für den vorgesehenen Verkauf vorzubereiten. Der Rollladen muss gerichtet werden, das nicht ganz stilsicher eingerichtete Wohnzimmer entrümpelt, und die Bepflanzung im Hof hat auch schon bessere Zeiten gesehen.
Was als pragmatischer Arbeitseinsatz geplant war, entwickelt sich zu einer emotionalen Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Familiengeschichte. Nicht nur, dass der Schriftsteller José, sein eher praktisch veranlagter Bruder Vicente und Nesthäkchen Carla ganz unterschiedlich mit der Situation umgehen – sie stellen auch schnell fest, dass jedem noch so banalen Gegenstand, den sie in die Hände nehmen, wertvolle Erinnerungen anhaften. Der eingestaubte Plastiktisch auf der Terrasse erzählt von den Geburtstagen, die an ihm gefeiert wurden, die kaputte Nachttischlampe von den kostbaren lesend im Bett verbrachten Ferienabenden. All das dem Schuttcontainer zu überantworten, ruft mehr als ein Echo des Verlustschmerzes hervor, den die drei Geschwister seit dem Tod des Vaters in sich tragen. Und so durchleben sie praktisch noch einmal die vielen gemeinsam im Haus verbrachten Wochenenden und Sommerurlaube, mitsamt aller Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit ergeben: die Familie wächst; eines nach dem anderen kommen die Kinder hinzu und finden ihre Rolle im Familiengefüge. Dann werden sie flügge, sind nur noch seltener mit dabei, bis schließlich die alt gewordenen Eltern alleine im Haus zurückbleiben.
Das alles zeigt Paco Roca in ruhigen, unaufgeregten Zeichnungen, die sich nicht wichtigmachen, aber gerade dadurch umso wirkungsvoller sind – wie ein Erzähler, der mit leiser Stimme spricht und so dafür sorgt, dass seine Zuhörer jedes seiner Worte konzentriert aufnehmen. Stoisch und in aller Ruhe baut er seine Geschichte auf – wie der Vater Antonio die Mauer um den Gartenhof; Stein für Stein, einen nach dem anderen, in der Zeit, die es eben dafür braucht. Schon der Prolog des Buchs demonstriert, zu welcher Meisterschaft Roca es bei dieser speziellen Form des genau beobachtenden Erzählens gebracht hat. Über eine ganze Seite hinweg erlebt man hier mit, wie der Vater sich darauf vorbereitet, die Wohnung zu verlassen, und man spürt beinahe körperlich die Mühe und Beschwerlichkeit des Alters. Und als er schließlich die Tür hinter sich zuzieht, ahnt man, dass es das letzte Mal gewesen sein wird.
Der melancholische Grundton, den diese erste Seite anschlägt und der die ganze Geschichte über anhält, intensiviert sich noch einmal, wenn die drei Geschwister schließlich auf die letzten Monate ihres Vaters zurückschauen. Die belastenden Stunden, die Carla mit ihrem Vater im Wartezimmer der Arztpraxis verbringt; die in dessen Gesicht ablesbare Erschütterung, wenn er erkennt, dass vieles, was sein Leben ausmachte, nicht mehr möglich sein wird. Und schließlich, ganz am Ende des Wegs, die Last, unter der Vicente auch ein Jahr später noch leidet: schwere, endgültige Entscheidungen treffen und deren Konsequenzen aushalten zu müssen – bis zum letzten Atemzug.
Trotz des ehrlichen, unverstellten Blicks auf diese schweren Themen gelingt es Paco Roca, die Geschichte nicht vollkommen in Traurigkeit versinken zu lassen – indem er spürbar macht, dass es gerade die Endlichkeit des Lebens ist, die es so wertvoll macht. Und dass es die Verbundenheit mit nahen Menschen ist, die uns die Kraft gibt, diese Wahrheit zu akzeptieren.
So findet Roca auch einen versöhnlichen Abschluss für seine Geschichte. Die Pergola, die der Vater einst trotzig alleine zusammengezimmert hatte, weil keines der Kinder Zeit für den eigentlich gemeinsam geplanten Arbeitseinsatz hatte, bauen die drei nun gemeinsam neu auf – so wie er sie sich ursprünglich vorgestellt hatte. Und in den Gesprächen, die sie bei dieser Trauer-Arbeit im ganz wörtlichen Sinn führen, in ihren Gedanken – und letztlich in den Menschen, zu denen die drei durch ihre gemeinsame Geschichte geworden sind – ist der Vater doch immer mit dabei.
la casa
Paco Roca / Reprodukt
Gebundene Ausgabe, 128 Seiten, 24 €
Alle Abbildungen © Paco Roca / Reprodukt
Paco Roca ist zu Gast beim Comicfestival München, das heute seine Tore öffnet. Bis Sonntag gibt es ein reichhaltiges Programm mit Ausstellungen, Lesungen, Diskussionsrunden und natürlich jeder Menge Signierstunden. https://comicfestival-muenchen.de/