Wir singen das Plasma

Genossin Kuckuck

Wir singen das Plasma
Genossin Kuckuck
20. März 2024

Morgen wird der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen – und mit Anke Feuchtenbergers GENOSSIN KUCKUCK hat es zum ersten Mal eine Graphic Novel in der Kategorie „Belletristik“ auf die Shortlist dieser renommierten Auszeichnung geschafft. Vollkommen zurecht, meint der ALLESFRESSER – und berichtet von seiner ersten Begegnung mit diesem Monumentalwerk.

2018 präsentierte die Waiblinger Stihl-Galerie in einer eindrucksvollen Ausstellung den State of the Art der Graphic Novel im deutschsprachigen Raum. Originalzeichnungen, Drucke, Skizzen und Vorstudien von Künstlerinnen und Künstlern wie Birgit Weyhe, Nicolas Mahler, Anna Haifisch oder Isabel Kreitz zeigten die ganze Vielfalt und Lebendigkeit der Szene. Mit am eindrücklichsten waren aber einige großformatige Tableaus im hinteren Teil des Saals. Eine Landschaft, das Portrait eines Jagdhunds, die detailgetreue Studie einer Nacktschnecke, alle ausgeführt als meisterhafte Kohlezeichnungen, rätselhaft in ihrer düsteren Sachlichkeit – ein verlockender und vielversprechender Ausblick auf Anke Feuchtenbergers Graphic Novel „Ein deutsches Tier im deutschen Wald“, an der sie damals schon acht Jahre gearbeitet hatte.

Weitere fünf Jahre später, im Herbst 2023, erschien das Werk, nun unter dem Titel GENOSSIN KUCKUCK, verkaufte sich hervorragend, schaffte es sofort auf diverse Jahresbestenlisten und wurde jetzt durch die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse geadelt.

Im Mittelpunkt des Buchs steht Kerstin, die in den 1960er Jahren in einem Dorf in Vorpommern aufwächst. Anhand einzelner Geschehnisse aus ihrer Kindheit und Jugend erfährt man vom strengen Regiment ihrer Großmutter, von ihrer ambivalenten Freundschaft zu Effi, die schneller erwachsen wird als sie selbst und früh ein Interesse an Jungs im Allgemeinen und Kerstins Bruder Jochen im Besonderen entwickelt, aber auch von dörflichen Traditionen, von sozialistischen Ritualen in der ländlichen DDR und von den Versehrungen, die die ältere, durch Kriegs- und Aufbaujahre geprägte Generation mit sich herumträgt. Einzelne Episoden springen in die Nachwendezeit und zeigen, wie eine erwachsene Kerstin zur Beerdigung der Großmutter zurück ins heimatliche Dorf kommt und dabei erfährt, welche Verheerungen der Ausverkauf nach der Wiedervereinigung in der Region hinterlassen hat.

Was in dieser Zusammenfassung nach einer schlüssig und nachvollziehbar aufgebauten Handlung klingt, erlebt man beim Lesen allerdings ganz anders. Die Erzählung folgt vielmehr der Logik eines Traums. Figuren erscheinen, tun rätselhafte Dinge an seltsamen Orten, verwandeln sich und verschwinden wieder – um später in anderer Gestalt und anderen Zusammenhängen wieder aufzutauchen. Mitten im mondbeschienenen See erscheint die dreibrüstige Große Frau, um Kerstin zu trösten und ihr Lebensweisheiten mit auf den Weg zu geben. Tiere jeglicher Art und eigentümliche Mischwesen agieren ausgesprochen menschlich und kommentieren das Geschehen. Überhaupt nehmen das Organische, das Entstehen und Vergehen des Lebens und die vielen Transformationen dazwischen großen Raum ein; nicht selten in ihren eher unappetitlicheren Ausprägungen: als schleimiges Gelege im Tümpel, als Kuhfladen auf der Wiese (der zugleich ein Portal in eine magische Unterwelt darstellt), als wuchernder Pilz im Wald oder in den offenen Gedärmen des von einem Keiler verwundeten Jagdhunds. Und immer wieder in Form der allgegenwärtigen Nacktschnecken. Die bevölkern nicht nur die Wiesen rund um das Dorf, sie zieren auch das Teegeschirr (was sie nicht daran hindert, sich mit Kerstin zu unterhalten), sie versammeln sich – nun in leicht vermenschlichter Darstellung – zu eigentümlichen Ritualen und um „das Plasma zu singen“. Auch die Frauen des Dorfs werden hin und wieder mit weichen Fühlern an den Köpfen dargestellt, als weitere Inkarnation der Weichtiere. Und sehen nicht sogar ihre viellagigen Rocksäume genauso aus wie die fein lamellierten Sohlen der Schnecken?

Zur starken Wirkung der Erzählung trägt auch die formale Strenge bei, in der sie umgesetzt ist: Zwei querformatige Panels stehen zumeist auf einer Seite übereinander, ergänzt um kurze, dazwischen oder darunter angeordnete Texte in einer altertümlich anmutenden Sprache, die das Märchenhafte der Geschichte noch einmal betont; gesetzt in einer artifiziell gestalteten Schrift, die ein langsames, aufmerksames Lesen einfordert. Aufgebrochen wird diese Struktur nur stellenweise durch Wechsel in der Darstellungstechnik und formale Experimente, die ein zusätzliches Irritationsmoment darstellen.

In der Gesamtwirkung entwickelt sich so eine märchenhaft-surreale, aber auch latent bedrohliche Atmosphäre, die sich häufig aus Andeutungen speist. Wer die Geschichte ergründen will, muss diese Spuren unter der Oberfläche lesen und interpretieren – und Leerstellen auffüllen; durch genaue Beobachtung, durch eigene Schlussfolgerungen und stellenweise einfach durch die freie Assoziation, zu der die Erzählung zahllose Anstöße gibt. So entsteht im Kopf jedes und jeder Lesenden ein ganz eigenständiges Werk – und das bei jedem (Wieder-)Lesen aufs Neue. Einen derart vielschichtigen Comic hat man noch nicht oft gesehen. Von daher darf man der Leipziger Jury bestätigen: GENOSSIN KUCKUCK ist große Literatur!

Genossin Kuckuck
Anke Feuchtenberger 
/ Reprodukt
Hardcover mit Goldschnitt
, 448 Seiten, 44 €

Alle Abbildungen © Anke Feuchtenberger  / Reprodukt