Der Salon in 22 Szenen (2)

Ein sehr persönliches Reisetagebuch vom 20. Internationalen Comic-Salon Erlangen

Der Salon in 22 Szenen (2)
Ein sehr persönliches Reisetagebuch vom 20. Internationalen Comic-Salon Erlangen
02. Juli 2022

Im zweiten Teil unseres Salon-Tagebuchs geht es um alte Meister, junge Talente, heiße Partys, kalte Keller und natürlich: Comics, Comics, Comics. Haben wir schon die Comics erwähnt?

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Samstag, 9:02 Uhr, Zimmer 133

Zu nachtschlafender Zeit weckt mich ein Anruf meiner Reisegefährten, die mich am Frühstücksbuffet vermissen. Schön, so fürsorgliche Freunde zu haben – aber auch ein Zeichen dafür, dass wir in zwei langen Pandemiejahren ganz vergessen haben, wie das so mit den Partys ist und welche Auswirkungen sie manchmal auf den folgenden Tag haben.

13
Samstag, 11:35 Uhr, Halle B

Ich schaue am Stand von Zwerchfell vorbei, um Stefan Dinter zu den beiden Preisen zu gratulieren, die der Verlag bekommen hat: den Max und Moritz-Preis für Jeff Chis „Scatman“ und den ICOM-Preis für „Murr“ von Josephine Mark. „Zweieinhalb Preise“, verbessert mich der bestens gelaunte Stefan; über den Max und Moritz-Preis, mit dem Josephine darüber hinaus für „Trip mit Tropf“ ausgezeichnet wurde, freut er sich natürlich auch noch mit – auch wenn das Buch gar nicht bei ihm, sondern beim Kibitz Verlag erschienen ist.

14
Samstag, 12:00 Uhr, Schlossgarten

Ruhepol Schlossgarten. © Internationaler Comic-Salon Erlangen – Foto: Erich Malter, 2022

Endlich mal Zeit zum Durchschnaufen – und um die wunderbare Comic-Salon-Atmosphäre zu genießen, die die ganze Stadt erfüllt. Als Glücksgriff hat sich die Entscheidung der Veranstalter erwiesen, die Messe wie schon 2018 in Zelten rund um das Schloss auszurichten. Anstelle wie früher im Verborgenen vor sich hin zu nerden, beleben die Salonbesucherinnen und -besucher jetzt die Straßen und Plätze in der Innenstadt und sorgen für staunende Gesichter bei den Passanten.

Und der wunderbare Schlossgarten wird wieder zum großen Open-Air-Comic-Wohnzimmer, in dem man sich treffen, erste Blicke in die neu erworbenen Comics werfen oder einfach im Schatten der alten Bäume entspannen kann. Dem diskreten Charme der Heinrich-Lades-Halle trauern wohl nur noch ein paar beinharte Traditionalisten nach.

15
Samstag, 13:10 Uhr, Halle B

Nicht nur die Stimmung ist gut – auch die Umsätze scheinen zu passen (wobei zumindest bei den Verlagsvertretern das eine ja durchaus mit dem anderen zu tun hat): Es ist gerade mal Samstagmittag, und einige Stände sehen schon ziemlich geplündert aus. Am Stand von U-Comix hat Chris Bango die Restbestände einigermaßen dekorativ auf den Regalen verteilt, so dass man nicht gleich merkt, wie auch hier der Heuschreckenschwarm gieriger Messebesucher abgeräumt hat.

Bei den Indies und Kleinverlegern sieht es ähnlich aus: Am Tisch von Niki Smith ist das Angebot gegenüber dem Vortag deutlich ausgedünnt – und das obwohl ihre Frau schon extra Nachschub von zuhause mitgebracht hat. Sehr erfreulich, dass sich das enorme Engagement sich für die Comicschaffenden auch mal finanziell zu lohnen scheint!

16
Samstag, 14:48 Uhr, Halle B

Ungewohnte Regeln für eine Signierstunde: ein freundlicher Herr in Kleiderschrank-Format taxiert mich genau und erklärt mir, dass meine Hände jederzeit sichtbar sein müssen, solange ich bei den Künstlern am Tisch stehe. Traurig, dass solche Maßnahmen notwendig sind – aber leider unvermeidlich, wenn es um Can Dündar und den ägyptisch-sudanesischen Zeichner Mohamed Anwar geht. Am Stand des Recherchezentrums Correctiv präsentieren die beiden ihre Erdogan-Biografie, in der sie herausarbeiten, wie der aus einfachen Verhältnissen stammende Politiker mit kompromissloser Zielstrebigkeit und perfiden Methoden seinen Weg an die Macht verfolgt hat.

Schlimm, dass es auf der Welt so viele Missstände zu bekämpfen gibt – schön, dass das Medium Comic einen Beitrag dazu leisten kann.

17
Samstag, 15:50 Uhr, Hauptstraße

Inzwischen haben die Temperaturen doch außerordentliche Dimensionen angenommen. Die Sonne brennt vom Himmel, auf der Hauptstraße föhnt einem ein heißer Wind ins Gesicht. Leider erfahre ich erst zu spät vom kühlsten Ort des Comic-Salons: dem Tresorraum der ehemaligen Kreissparkasse, in dem ein Teil der großen Mawil-Ausstellung hängt. Tief unter der Erde zwischen meterdicken Betonwänden hat es auch unter diesen klimatischen Extrembedingungen erfrischende 16 Grad. So schön die Sache mit den Zelten auch ist – vielleicht sollte man vor dem Hintergrund des Klimawandels für den 21. Internationalen Comic-Salon schon mal die attraktivsten Keller von Erlangen reservieren.

18a
Samstag, 17:15 Uhr, Kunstmuseum

Will Eisner – Graphic Novel Godfather. © Internationaler Comic-Salon Erlangen – Foto: Erich Malter, 2022

Auf die Will Eisner-Retrospektive freue ich mich schon lange. Selten hat man die Gelegenheit, so viele Originale des Altmeisters auf einmal zu sehen; kenntnisreich zusammengestellt und kommentiert von Dr. Alexander Braun.
Meine Erwartungen werden voll und ganz erfüllt. Selbst wenn man Eisners Graphic Novels und „Spirit“-Geschichten eigentlich schon bestens kennt: die Zeichnungen im Original vor sich an der Wand zu sehen, ist schlicht und einfach überwältigend. Weil Eisner auf allen Ebenen so gut war: Seitenlayout, Bildaufbau, die Arbeit mit Licht und Schatten und natürlich Lettering und Titel-Typographie sind revolutionär. Generationen von Zeichnerinnen und Zeichnern haben von seinen Innovationen gezehrt – und tun das heute noch.

Aber es sind nicht seine überragenden Fähigkeiten allein, die Eisner zu einem großen Künstler machen. Es ist auch die Tatsache, dass er diese vor allem dazu nutzte, über die sogenannten kleinen Leute zu erzählen, über ihr einfaches Leben am Rand der Gesellschaft, und ihnen so Würde und Wahrnehmbarkeit verschaffte. Unvermittelt fragt man sich, warum es hier und heute eigentlich keine Comics über das Leben in Duisburg-Hochfeld oder in einem Geflüchtetenwohnheim in der schwäbischen Provinz gibt.

18b
Samstag, 17:50 Uhr, Kunstmuseum

Catherine Meurisse. L’Humour au sérieux © Internationaler Comic-Salon Erlangen – Foto: Erich Malter, 2022

Nur einen Ausstellungsraum weiter betritt man eine andere Welt: Die große, vom Cartoonmuseum Basel konzipierte Retrospektive „L’Humour au sérieux“ gibt einen wunderbaren Überblick über das umfangreiche, ungeahnt vielseitige Werk von Catherine Meurisse. Ihre fast schon naturalistischen Landschaftsstudien sind ebenso anrührend wie ihre leicht hingeworfenen Cartoons komisch.

Unterbewusst ordnet man alle Werke, die es hier zu sehen gibt, in ein Davor und ein Danach; mit dem Attentat auf die „Charlie Hebdo“-Redaktion, dem sie nur durch Zufall entging, als scharfem, brutalem Einschnitt. „Die Leichtigkeit“, das Buch, mit dem sie sich selbst aus der Trauer herauskämpfte, kommt nach diesen Eindrücken jedenfalls ganz oben auf meinen Lesestapel.

19
Samstag, 22:45 Uhr, Kulturzentrum E-Werk

Die Party von gestern steckt mir noch in den Knochen, da steht die nächste schon auf dem Programm. Selbstverständlich bin ich wieder mit dabei – auch wenn ich beschließe, es nicht ganz so exzessiv anzugehen wie J., der konsequenterweise auf die Buchung eines Hotelzimmers verzichtet hat, weil man in Erlangen ja eh nicht zum Schlafen kommt.

Auch weil die Temperaturen sich so langsam wieder erträglichen Dimensionen annähern, wird es ein großartiger Abend im dicht gepackten Innenhof des E-Werks.

20
Sonntag, 9:48 Uhr, auf dem Weg in die Innenstadt

Schon eine ganze Zeit lang frage ich mich, was das eigentlich für ein seltsames Ziehen ist, das ich da im Gesicht spüre. Sonnenbrand vielleicht? Wäre nicht weiter verwunderlich bei diesem Wetter. Aber nein; plötzlich wird mir klar, dass man auch im Gesicht einen Muskelkater bekommen kann, wenn man vier Tage lang mit einem Dauergrinsen von einem Ohr zum anderen durch die Gegend läuft. Und mir schwant, dass ich in diesen Tagen nicht der einzige mit diesem neuartigen Krankheitsbild bin…

21
Sonntag, 11:15 Uhr, Stadtmuseum

Bedrückende Dokumente in der Ausstellung „Aber ich lebe“. Foto: ALLESFRESSER

Schließlich legt sich dann doch noch ein Schatten auf die gute Stimmung. Zu bedrückend ist es, was man bei der Ausstellung „Aber ich lebe“ über die Kindheitserlebnisse von Emmie Arbel, David Schaffer und dem Brüderpaar Nico und Rolf Kamp erfährt.

Miriam Libicki, Barbara Yelin und Gilad Seliktar haben ausführliche Gespräche mit den vier Holocaust-Überlebenden geführt und deren Erinnerungen anschließend in grafische Erzählungen übertragen. Die Ausstellung präsentiert nicht nur die Zeichnungen, sondern erläutert anhand von Originaldokumenten und Filmen auch den Entstehungsprozess des Buchs; die Annäherung zwischen den Zeitzeugen und den ihnen zugeordneten Künstlerinnen und Künstlern.

Am Ende beeindruckt vor allem, wie es den vier Porträtierten gelang, nach all dem Schrecken, den sie erfahren mussten, ins Leben zurückzufinden; Lebensmut und Lebensfreude wieder zu entdecken – und das Erlebte doch immer mit sich zu tragen, als Verpflichtung, davon zu erzählen.

22
Sonntag, 15:40, Weiße Herzstraße
(Bin ich eigentlich der Einzige, der sich über die vielen merkwürdigen Straßennamen wundert, die es in Erlangen gibt?)

Alle guten Dinge müssen enden, heißt es, und leider gilt das auch für den Comic-Salon. Die vorsorglich mitgebrachten Taschen, Beutel und Koffer reichen gerade so, um alle gekauften Comics hinein zu stopfen und zum Auto zu transportieren. (Die Oberarmmuskulatur eigentlich nicht; aber da muss man durch.)

Ein letzter Imbiss noch im Straßencafé, dann nehme ich rituell den blauen Bändel mit dem Presseausweis ab, der mich vier Tage lang durch den Salon begleitet hat, und beende damit auch innerlich meinen Salonbesuch.
Was nehme ich – neben den kiloschweren Neuerwerbungen – noch mit nach Hause? Jede Menge künstlerischer Impulse, neuer Erkenntnisse und schöner Erinnerungen an Treffen mit interessanten, liebgewonnenen Menschen. Einsichten in die Kraft des Comics; seine Fähigkeit, zu historischen, politischen und sozialen Themen Stellung zu beziehen.

Fast könnte man jetzt melancholisch werden – aber ein Gutes gibt es ja: zwei Jahre nur müssen wir ausharren; dann erwartet uns ein sicher ganz genauso wunderbarer 21. Internationaler Comic-Salon Erlangen!

Epilog
Montag, 18:32 Uhr, zuhause am Schreibtisch

Die unbestechliche Corona-WarnApp lässt keinen Zweifel daran, dass man sich die letzten vier Tage im Hochrisikogebiet aufgehalten hat. Zum Glück bleiben auch in den folgenden Tagen alle Schnelltests negativ und der Proband symptomfrei, was eine etwas abseitige Hypothese nahelegt: Vielleicht schützen ja hoch dosierte Endorphine im Zusammenspiel mit massivem Schlafentzug vor einer Corona-Infektion. Gut, vielleicht waren’s auch die drei Impfungen und das konsequente Maskentragen, aber ich finde, das sollte man schon mal erforschen. Dr. Drosten, übernehmen Sie!

Jetzt schon vormerken: Der nächste Internationale Comic-Salon Erlangen findet vom 30. Mai bis zum 2. Juni 2024 statt.

Aufmacherbild: Messe-Halle B (Schlossgarten). 
© Internationaler Comic-Salon Erlangen – Foto: Erich Malter, 2022